WeeklyWorker

20.09.2000

Marx und à–kologie

Im ersten von drei Artikeln beleuchtet Michael Malkin, wie Karl Marx die Beziehung zwischen Mensch und Natur sah

Was war Karl Marx's Einstellung zur Natur? Ich möchte in den folgenden drei Artikeln nicht so sehr auf die üblichen Beschuldigungen von Grünen, liberalen Bürgerlichen und anderen eingehen, die Marx für die ökologischen Katastrophen in der ehemaligen Sowjetunion und den anderen Ostblockstaaten verantwortlich machen. Auf diese Fragen will ich in anderen Artikeln antworten.

In dieser Serie will ich vielmehr versuchen, einen theoretischen Rahmen zu setzen, der unsere wichtige Diskussion weiter vorantreiben kann. Im ersten Artikel will ich meine eigene Einschätzung zum Thema geben und Marx's naturalistischen Materialismus in seinen historischen und intellektuellen Kontext setzen.

Ich werde näher beschreiben, was ich als den philsophischen Kern in Marx's Materialismus sehe: Um zu verstehen, was es heißt, Mensch zu sein, müssen wir die Beziehung zwischen den Menschen und der sie umgebenden Natur verstehen, eine Beziehung, die durch die produktive Arbeit des Menschen gestaltet wird. Um unsere physischen, emotionalen und geistigen Bedürfnisse zu befriedigen, treten wir in Produktionsverhältnisse mit anderen Menschen und mit den Kräften der Natur ein. Während dieses Prozesses verändern wir nicht nur die Natur, sondern auch uns selbst.

Dieses Verständnis - die Menschheit als ihr eigener Erschaffer - war damals keineswegs ein neuartiges Konzept. Marx berief sich in vielen seiner Theorien auf Fichte und noch öfter auf Hegel. Aber Marx konkretisierte diese Ideen, brachte sie in eine neue, umfassendere Form. Ich werde nachfolgend argumentieren, dass dieses Verständnis eine revolutionäre Neubewertung der Beziehung Mensch - Gesellschaft hervorbrachte und dass sämtliche Werke Marx's auf diesem Verständnis basieren: von den Ökonomisch-philosophische Manuskripte über die Grundrisse bis hin zu Das Kapital.

Eine theoretische Frage war von unzweifelhaftem Interesse für Marx und beschäftigte ihn in der einen oder anderen Form sein ganzes Leben lang: Was heißt es, Mensch zu sein? Nicht im Verhältnis zu Gott oder einer anderen übernatürlichen Macht; nicht als sub specie aeternitatis; und auch "nicht als abstraktes Geschöpf, dass ausserhalb der Welt" existiert, sondern "Mensch in der Welt der Menschen, dem Staat und der Gesellschaft" (Karl Marx Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie). Marx lehnte die theologischen Ansätze vieler früherer Philosophien, die dem Menschen ein spezielles, vorherbestimmtes Schicksal zuschreiben, rundum ab. Marx's Werk ist von Anfang bis Ende anthropozentrisch, ist jedoch auch fest verwurzelt in der Studie "echter Individuen, ihrer Aktivitäten und ihrer materiellen Lebensumstände - nicht nur die, die sie vorfinden, sondern auch die, die sie selbst gestalten". (K. Marx und F. Engels Die Deutsche Ideologie; nachfolgend DI).

Seine Perspektive ist immer sowohl historisch als auch sozial. In den Ökonomisch-philosophische Manuskripte nennt Marx seine Vorgehensweise "konsistenten Naturalismus oder Humanismus" und schreibt, dass sie sowohl vom Idealismus als auch vom Materialismus unterscheidbar ist, obwohl er beiden Denkrichtungen "ihre beide vereinigende Wahrheit" zuschreibt. Er schrieb oftmals über die "material-istische Grundlage" seiner Methode, beschrieb den "materialistischen Charakter" seiner Theorien und sagte, dass sie eine "Beziehung haben zum naturalistischen Materialismus". Marx's Gedankengut ist geprägt von einer neuen und faszinierenden Einsicht in das Verhältnis zwischen Mensch und Natur und ist zentral auch in seinen Schriften über Geschichte und Gesellschaft. Diesen philosophische Grundgedanken schrieb Marx jedoch niemals als Doktrin nieder, sodass wir uns auf die Methode der Synthese verlassen müssen. Die Schlüsse, die wir aus einer solchen Neuinterpretation seiner Texte ziehen, sind per Definition nicht abschliessend, sondern ein Versuch des vorsichtigen Herantastens.

Um Marx' Ansatz zu verstehen, beginnt man am besten mit einer Beschreibung dessen, was dieser nicht war.

Erstens konzentriert sich Marx' Materialismus nicht auf die tatsächliche ,Materie'; es ist also keine transzendente, metaphysische Doktrin über irgendeine spezielle Substanz, aus der alles Existierende besteht. Dieser absolute Materialismus wird von Engels in folgendem Aphorismus zusammengefasst: "Die wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität" (F. Engels Anti-Dühring). Nicht, dass Marx eine solche Aussage rundum ablehnte. Für ihn war klar, "dass diese materielle, fühlbare Welt die einzige Realität darstellt", um noch einmal Engels zu zitieren (,Ludwig Feuerbach' in Marx und Engels Über Religion, nachfolgend MEÜR). Doch Marx war nunmal nicht an Materie interessiert, sondern an der Natur.

Zweitens ist Marx's Materialismus keine minimalistisch-kausale Doktrin; er behauptet also nicht, dass alle Ereignisse, inklusive geistiger Ereignisse, auf feststehende Gesetze zurückzuführen sind, die die Form und Bewegung von ,Materie' bestimmen. Marx - wie alle Materialisten - war natürlich der Meinung, dass der Geist nicht unabhängig von der Materie existieren kann. Engels nennt den Geist "das höchste Produkt der Materie" (ebenda). Aber ,X ist das Ergebnis von Y' ist nicht das gleiche wie ,X ist nichts anderes als Y'. Marx war also weit davon entfernt, menschliches Denken und Bewusstsein auf reine Biochemie zurückführen zu wollen. Eine solche Reduzierung ist eine Form von ,vulgärem' Materialismus, den Marx nicht nur ablehnte, sondern zeitlebens bekämpfte. Später mehr darüber.

Drittens ist Marx' Materialismus keine abstrakte Theorie, die um das Wissen kreist. Marx glaubte nicht, dass das menschliche Denken von einer passiven Aufnahme externer Informationen geleitet wird, die dann im Gehirn irgendwie mit einem Fundus an Bildern, Informationen und Erfahrungen verglichen werden (Engels nannte diesen Fundus ,Abbilder der Realität'). Marx hatte schlichtweg keine Zeit für solch spekulative, scholastischen Probleme wie die Beziehung zwischen ,purem' Denken und der Realität. Dies waren in seinen Augen keine wichtigen Fragen. Die Vorstellung, dass man sich den Menschen aus der Wirklichkeit ,wegdenken' kann, um zu einer Art ,reinen Welt' unabhängig von menschlichem Einfluss und Verständnis zu gelangen, ist absurd. Für Marx ist Denken eine "sinnlich menschliche Tätigkeit" oder "Praxis" und der Fokus dieser "sinnlich menschlichen Tätigkeit" beruht immer auf der Interaktion zwischen Mensch und Natur, in der Bewusstsein eine zentrale Rolle spielt (,Thesen über Feuerbach'). In gewissem Sinne ist also jeder Akt der Kognition, des Wissens, ein Akt der Kreation.

Letzlich ist es wichtig, mit einem Vorurteil aufzuräumen, das trivial erscheint, aber dennoch erwähnt werden muss. Marx Materialismus beschreibt nicht ,materialistische' Verhaltensweisen. Marxisten sind Materialisten, aber das bedeutet nicht, dass sie von ,materiellen' Dingen besessen sind. Seine Einstellung zu dieser Art von ,Materialismus' war immer ganz klar:

"Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass wir ein Objekt nur dann als unseres ansehen, wenn wir es haben ... wenn wir direkt besitzen ... jeder physikalische und intellektuelle Sinn wurde durch diese simple Bedeutung des Habens ersetzt" (K. Marx Frühe Schriften, nachfolgend FS).

Doch Marx war kein moralisierender Asket. Man sollte nicht den Fehler begehen und diese letzten Aussagen als Predigt gegen das ,Böse aller Besitztümer' mißverstehen. Doch für Marx hat diese Form des ,Materialismus', die den Menschen alleine danach beurteilt, was er hat, nicht danach, was er ist, etwas ,entmenschlichendes'. Es reduziert den Menschen auf seine Besitztümer und ,entfremdet' ihn von seiner Umgebung. Die Beziehungen zwischen Menschen werden auf perverse Art in Beziehungen zwischen Dingen verwandelt - ein Grundpfeiler in Marx's Theorie.

Also was nun ist Marx' Materialismus? Was bedeutet "konsistenter Naturalismus oder Humanismus"? Naturalismus basiert auf der Überzeugung, dass außerhalb der natürlichen Welt nichts existiert. Diese natürliche Welt ist selbst-regulierend und selbst-erhaltend. Es bedarf keiner übernatürlichen Macht, die uns ihre Regeln und Gesetze erklärt - die Welt selbst versorgt uns mit dem Wissen, das wir brauchen, um alle Phänomene in ihr verstehen können.

Marx' Naturalismus ist humanistisch und anthropologisch, denn "Natur abstrakt betrachtet, als isolierte Natur ohne den Menschen - bedeutet dem Menschen überhaupt nichts" (FS). Dabei ist klar, dass "die Priorität der externen Natur" nicht angezweifelt wird (DI). Die natürliche Welt existierte Milliarden von Jahren vor dem Menschen, aber diese vormenschliche Zeit interessiert Marx nicht. Er lässt sich nicht auf wilde Spekulationen über die Entstehung der Welt ein. Der Punkt ist, dass es heute keinerlei Sinn macht, den Menschen von der Natur abstrahieren zu wollen - es ist unmöglich, die heutige Natur zu verstehen, ohne die Existenz oder die Aktivität von Menschen in Betracht zu ziehen. Für Marx sind Humanismus und Naturalismus ein und das selbe, weil der Mensch durch seine praktischen Tätigkeiten die Natur quasi ,humanisiert' hat - und das schon seit den ersten Tagen seiner Existenz. Homo faber - der Mensch als Macher - hat die heutige Welt durch sein "aktives Dasein als Spezies gestaltet, in der die Natur als seine ,Erschaffung' und seine Realität erscheinen". Die Natur ist also nicht etwas "da draußen", oder etwas, dass unveränderlich ist.

Dieses Konzept scheint aus heutiger Sicht sehr logisch und offensichtlich. Doch um Ideen wirklich zu verstehen, müssen wir den historischen Kontext ihrer Entstehung beleuchten. Dies wird klar, wenn wir das Beispiel der ,Erschaffung der Welt' betrachten. Wie kann man nicht Roger Garaudy zustimmen, der schreibt: "Die essentielle Rolle des Materialismus ist es, die Absurdität dieser sinnlosen Formulierung der ,Erschaffung' bloss zu stellen, die einen angeblichen Übergang vom ,Nichts' zur ,Existenz' beschreiben soll" (R. Garaudy Karl Marx: the evolution of his thought). Das Konzept der Evolution ist heute so tief im Bewusstsein der meisten Menschen verwurzelt, dass schnell vergessen wird, wie relativ neu diese Idee doch ist.

Zu Marx' Zeiten war es ein schockierendes Konzept, die Natur als langen Prozess evolutionären Wandels zu betrachten. Charles Darwins Schriften Zur Entstehung der Spezien (1859) und Die Abstammung des Menschen (1871) lösten enorme Kontroversen aus. Dies war eine Zeit, in der die Bibel fast überall als die sprichwörliche Wahrheit akzeptiert wurde. Darwins Werk wurde - mit gutem Recht - als Bedrohung der religiösen Fundamente gesehen. Als wissenschaftliches Werk, das die Entstehung aller Lebewesen auch ohne biblische ,Erschaffung' erklären kann, macht es das Konzept ,Gott' quasi überflüssig. Und weil es beweisen kann, dass die Ideen im Buch der Genesis nicht haltbar sind, zweifelt es natürlich die gesamte Bibel an.

Darwin wurde auch bezichtigt, durch das Aufzeigen der Fehler in der Bibel die Basis für das gesamte menschliche Moralsystem abschaffen zu wollen. Dies setzt natürlich voraus, das Moral mit Religion gleichgesetzt wird: wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es auch kein Leben nach dem Tod und Sünden bleiben unbestraft. Ohne die drohende Strafe Gottes werden sich Menschen wie Tiere verhalten. Mit solch einem Konzept kann man die letzten Jahrtausende der Menscheitsgeschichte natürlich nicht erklären; Jahrtausende, in denen brutalste und unmenschlichste Dinge von strengen religiösen Dogmen und Dogmatikern angeordnet wurden.

Besonders in Amerika sind diese Ideen immer noch weit verbreitet. Dort predigt die religiöse Rechte gegen die Evolution und will uns glauben machen, dass Kriminalität und Barbarismus in der westlichen Welt (vor allem in den USA) allein vom Niedergang der Religiösität stammen und dass ,Erlösung' nur durch eine erneute Zuwendung zur dogmatischen Religion erfolgen kann - ein Konzept, das das Potenital der Menschen und ihrer Institutionen äußerst pessimistisch und negativ beschreibt.

Der mechanische Trend

Marx' Naturalismus, der so vehement die praktische, kreative Aktivität der Menschen bei der Gestaltung der Welt betont, unterscheidet sich in mehreren Aspekten vom klassischen Materialismus. In Die Heilige Familie zeigt er zwei Trends in der Entwicklung des Materialismus: einer davon begann mit Descartes, der "Materie eine selbst-produzierende Macht zuschrieb und mechanische Bewegung als deren Ergebnis betrachtete" (Karl Marx Ausgewählte Werke, nachfolgend KMAW). Diese mechanische Schule interpretierte menschliches Bewusstsein und jede intellektuelle Aktivität als das Ergebnis rein physiologischer Prozesse. Lamettrie (1709-1751) zum Beispiel nahm Decartes' Ideen über die Funktion von Tierorganismen und übertrug sie einfach auf den Menschen. In seiner Schrift L'homme machine (1748) beschrieb er "die Seele als einen Modus des Körpers und Ideen als mechanische Bewegungen". Dieser Ansatz wurde von Cabins (1757-1808) noch weiter getrieben, der "den Cartesianischen Materialismus perfektionierte" (ebenda). Er glaubte, dass menschliches Bewusstein als rein mechanischer Prozess begriffen werden kann, während dessen das Gehirn Gedanken produziert, im gleichen Sinne wie die Leber Galle produziert. Dieser Ansatz, der von Marx rundum abgelehnt wurde, wurde schon bald integraler Teil der Naturwissenschaften.

An dieser Stelle ein kleiner Abstecher, denn in den letzten Jahren ist die ,Körper-Geist-Debatte' wieder in den Mittelpunkt der Diskussion geraten. Der amerikanische Philosoph Daniel C. Dennett, ein enthusiastischer Anhänger von Lamettrie und Cabanis, versichert uns, dass das menschliche Bewusstein auf biochemische Prozesse im Gehirn und im Zentralen Nervensystem reduzierbar ist (D.C. Dennet Consciousness explained und Kinds of minds). Einige Marxisten mögen diesen Ansatz attraktiv und überzeugend finden - besonders die, die Engels Theorien zum Thema sehr krude interpretieren und glauben, auf diese Weise auf den Dualismus von Körper und Geist verzichten zu können.

Ohne Zweifel birgt dieser reduzierende Ansatz eine kaum nachvollziehbare Anzahl von Implikationen. So muss z.B. die gesamte menschliche Identität neu definiert werden. Wenn unsere Gedanken und Gefühle tatsächlich nur "molekulare und chemische Bewegungen im Gehirn" sind (wie Engels es einmal ausdrückte), wie können wir in auch nur annähernd sinnvoller Weise über menschliche Individualität, individuelle Freiheiten, Bewusstsein oder Verantwortung sprechen? Biologisch-mechanische Theorien wie die von Dennett berauben die Menscheit jeglicher Bedeutung.

Sicher, der menschliche Geist ist das "Eigentum" von spezifisch angeordneter Materie - also das "Eigentum" des menschlichen Gehirns (Engels) - aber diese Erklärung ist keineswegs ausreichend. Sie deutet jedoch zur Quelle dieser mechanischen Mißinterpretation: diese Materialisten betrachten physiologische Prozesse in undialektischer Weise, in Isolation von der Totalität. Das Gehirn kann nicht ausserhalb des Kopfes des Menschen existieren, dessen Geist und Bewusstsein durch komplexe, interaktive soziale Prozesse geformt wird - nicht durch selbstproduzierte, physiologische Vorgänge.

Marx, der zwar nicht besonders viel zu diesem Thema schrieb, machte jedoch immer deutlich, dass er sowohl den mechanischen Materialismus von Lamettrie als auch den vulgären Materialismus vieler seiner Zeitgenossen (Vogt, Büchner und Moleschott) ablehnte. Seine Wortwahl ist signifikant: "Der Materialismus entwickelte sich sehr einseitig ... Jeder Bezug zur Sinnlichkeit wurde aufgegeben ... Physikalische Bewegungen wurden der Mechanik oder der Mathematik untergeordnet. Materialismus entwickelte sich feindlich gegenüber der Menschheit" (KMAW).

Marx's Kritik an diesem mechanischem Materialismus kam interessanterweise schon einige Jahre zuvor in seiner Doktorarbeit über Democritus und Epicurus zum Vorschein. Democritus sah im Atom eine "pure und abstrakte Kategorie", mehr nicht. Seine Hypothese zur Bewegung von Atomen versuchte, die physikalische Natur in absoluten Kategorien zu erklären. Epicurus hingegen wollte die Gesetze der Natur verstehen, um die Menschheit von Angst und spriritueller Sklaverei zu befreien. Marx beschrieb ihn als "den größten griechischen Erleuchter" und Gründer der "Naturwissenschaft des menschlichen Selbstbewusstseins". Marx hob besonders hervor, dass Epicurus die Natur und die Menschheit mit den gleichen Terminologien beschrieb und keinerlei Graben zwischen den beiden sah (KMAW).

Es ist bezeichnend für seinen Humanismus, dass Marx die Menschenfeindlichkeit als den größten Fehler der mechanischen Materialisten hervorhob. Seine Schriften zum Thema Wissen, Menschlichkeit und menschliche Individualität betonen diese Kritik immer wieder. Marx wies alle Erklärungen des Bewussteins zurück, die die soziale und praktische Natur der menschlichen Existenz verneinten:

"Sprache ist so alt wie das Bewusstsein. Nur weil sie für andere Menschen existiert, existiert Sprache für mich. Sprache, genauso wie das Bewusstein, kann sich nur aus einem Bedürfnis heraus entwickeln - dem Bedürfnis, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Bewusstsein ist daher durch und durch ein Produkt sozialer Beziehungen" (DI).

Der humanistische Trend

Es ist einfach nachzuvollziehen, wie Marx' Betonung der sozialen Basis des Bewussteins ihn dazu führten, einen zweiten Trend innerhalb des klassischen Materialismus auszumachen, dem er sehr viel positiver gegenüberstand - vertreten u.a. durch Bacon, Locke und Helvetius. In Die Heilige Familie verweist Marx auf das Werk von Condillac (1715-80), der "Lockes Ideen erweiterte und nachwies, dass nicht nur die Seele, sondern auch die Sinne auf unseren eigenen Erfahrungen und Gewohnheiten basieren. Die Entwicklung des Menschen hängt daher von seiner Erziehung und seiner Umwelt ab".

Marx war besonders von diesem zweiten französischen Trend im Materialismus fasziniert, weil dieser sich ganz praktisch mit der Moral und den politischen Konsequenzen des Materialismus beschäftigte, die direkt zum Sozialismus und zum Kommunismus führen. In Helvetius' Werk spielen Erfahrungen, Angewohnheiten, Erziehung und die Umwelt eine zentrale Rolle und bilden die Grundlage für einen positiven, optimistischen Humanismus. In Die Heilige Familie beschreibt Marx diesen Trend mit seinen eigenen Worten:

"Wenn der Mensch also all sein Wissen, seine Empfindungen usw. durch die Welt der Sinne erfährt, dann muss die empirische Welt so organisiert sein, dass in ihr der Mensch lernt, wirklich menschlich zu sein und sich selbst als Mensch bewusst wird. Wenn das Interesse der Grundsatz aller Moral ist, dann muss das Privatinteresse des Menschen mit den Interessen der gesamten Menschheit übereinstimmen. Wenn der Mensch durch seine Umwelt geformt wird, dann muss seine Umwelt humanisiert werden. Wenn der Mensch von Natur aus ein soziales Wesen ist, kann er seine wirkliche Natur nur in der sozialen Gesellschaft entwickeln. Die Kraft der menschlichen Natur kann nicht an einzelnen Individuen gemessen werden, sondern nur anhand der Kraft der gesamten Gesellschaft."

Marx sah Helvetius als politischen Vorgänger von Sozialisten wie Babeuf, Fourier und Owen. Da dieser Materialismus auf der "Überzeugung beruht, dass der Mensch grundsätzlich gut ist", war dieser Trend "logischerweise mit Kommunismus und Sozialismus verwandt" (ebenda). Ein anderer Aspekt, der Marx' Zustimmung fand, war die Betonung des "wirklichen individuellen Menschens", ein erfrischend neuer Ansatz, verglichen mit dem der Jungen Hegelianer, die Marx in Die heilige Familie wegen ihres "Spiritualismus und spekulativem Idealismus" und ihrer egozentrischen Obsession mit dem "Selbst-Bewusstsein" anprangerte. Doch in erster Linie schätzte Marx Helvetius' Betonung unserer sozialen Natur. Auch er glaubte, dass das Potential der Menschen - auch das eines Individuums - sich nur in einem sozialen Umfeld voll entwickeln kann.

Feuerbach

Im August 1844, als er in Paris die Ökonimisch-philosophische Manuskripte verfasste, schrieb Marx einen Brief an Ludwig Feuerbach, in dem er ihm nicht nur seinen "höchsten Respekt" aussprach, sondern sogar von seiner "Liebe" zu dem Mann schrieb, dessen Werke "mehr Substanz haben als die gesamte deutsche Literatur zusammengenommen" (KMAW). Was genau in Feuerbachs Schriften veranlasste Marx zu solchen Lobeshymnen? Einen Anhaltspunkt finden wir im Vorwort der Ökonomisch-philosophische Manuskripte. Marx schreibt, dass Feuerbachs Entdeckungen die "wahren Fundamente" der post-Hegelischen "positiven Kritik" darstellen. Nach Hegels Phänomenologie und Logik zeige ganz allein Feuerbachs Werk "eine echte theoretische Revolution" und es sei Feuerbach, der "die erste positive humanistische und naturalistische Kritik" produzierte. Feuerbachs Schriften sind durchdrungen von einem tiefen ,sinnlichen Gefühl' für die Menschheit und die Natur - einen ähnlich positiven Ansatz finden wir in vielen Passagen der Ökonomisch-philosophische Manuskripte.

Das Wort ,sinnlich' muss hier in seinem korrekten historischen Kontext verstanden werden. Zu Marx' und Feuerbachs Zeiten hatte es nicht die heute gängige sexuell anzügliche Bedeutung. Die beiden wollten hervorheben, dass "Sinnlichkeit" untrennbar vom Körper betrachtet werden muss - denn dem Körper messen beide besondere Wichtigkeit bei.

Wir können ohne Übertreibung feststellen, dass Feuerbach - und mehr noch Marx - die körperliche Seite wieder in die Philosophie re-integrierten und zur Diskussion stellten. Beide kehrten dem jahrhundertelang akzeptierten religiös-philosophischen Dualismus von Körper und Geist bewusst den Rücken. Die christliche Lehre, angeführt von augustinischer Theologie, sah im Körper nichts weiter als einen fleischigen Aufbewahrungsort für die Seele, eine Quelle unzähliger Verlockungen (besonders sexueller), etwas, das gezügelt und gebündigt werden muss, will man denn göttliche Erlösung erfahren. In der Philosophie hingegen wurde der Körper von Plato bis hin zu Sokrates vernachlässigt, weil er zur vergänglichen Welt der Materie zählt und verglichen mit der Seele und dem Geist nicht interessant war.

Decartes formalisierte den Dualismus zwischen Körper und Seele, Geist und Materie, noch weiter. Die beiden wurden völlig voneinander getrennt: res cogitans war die Welt des Geistes oder Seele, res extensa die Welt der Materie. Decartes' Cogito ergo sum fasste diesen Trend, dem wir schon im mechanischen Materialismus begegneten, zusammen: menschliche Identität, Bewusstsein und Persönlichkeit werden hier allein der Gedankenwelt zugesprochen. Das "wahre Ich", mein wirkliches Wesen, stellt sich hier als ein absolutes körperloses Konzept dar.

Dieser Dualismus produziert ein fragmentiertes Bild der menschlichen Persönlichkeit. Ein Teil von uns, die ,Seele' oder der Geist, soll in diesem Sinne das ,Ganze' unseres Mensch-seins darstellen, oder zumindest den ,höheren' Teil unserer Persönlichkeit, der den ,niederen' Teil unterdrücken und kontrollieren muss. Für Feuerbach machte die Idee einer menschlichen Persönlichkeit ohne Körper keinerlei Sinn. Die Idee, dass der Körper dem Geist unterlegen sein muss, bezeichnete er als Lüge gegen die Menschlichkeit. Er argumentierte hingegen, dass wir uns selbst "vom Standpunkt der Sinnlichkeit" als ganzen Organismus begreifen müssen.

"Während die alte Philosophie vom Standpunkt ausging, dass ,Ich ein abstraktes und nur denkendes Lebewesen bin, dessen Wesen ganz und gar körperlos ist', so beginnt die neue Philosophie mit der Idee, dass ,Ich ein reales sinnliches Lebewesen bin, und mein Körper in seiner Totalität ist mein Ego, die Wesen meines Daseins'" (L Feuerbach Grundsätze der Philosphie der Zukunft, nachfolgend Grundsätze).

Was die Religion also Seele nennt - unsterblich, spirituell und von Gott bei der Empfängnis implantiert -, ist (wie Gott auch) in Wirklichkeit nichts weiter als ein Produkt der menschlichen Einbildungskraft, eine Projektion oder Zeichen unserer Entfremdung und unseres mangelnden Selbstbewusstseins. Uns selbst auf diese Weise in verschiedene ,Abteile' aufteilen zu wollen ist ein rein therotisches Gedankenexperiment, dass mit der Wirklichkeit unseres täglichen Lebens aber auch rein gar nichts zu tun hat. Jede unserer Handlungen zeigt uns, dass wir organische, objektive Wesen sind. Sogar viele Jahre später, als Marx die gravierenden Fehler in Feuerbachs Materialismus heftigst kritisierte, verwies er jedoch immer wieder auf dessen Konzept "des Menschen als Objekt seiner Sinne", das Feuerbach über die "puren Materialisten" erhob. (KMAW)

Genau so wichtig war für Marx, dass Feuerbach "den wirklichen Materialismus und damit echte Wissenschaft gründet, indem er die sozialen Beziehungen zwischen Menschen zum Grundprinzip seiner Theorie machte" (KMAW). Feuerbach und Marx waren überzeugt, dass wir uns nur durch soziale Erfahrungen als menschliche Individuen bewusst werden können, "in der Gemeinschaft der Menschen" (Grundsätze).

Mensch-sein in der natürlichen Welt

Feuerbach betonte, dass der Anfangspunkt seiner neuen Philosophie "der Mensch sein muss, der sich als das selbstbewusste Wesen der Natur begreift" (ebenda). Wie alle Materialisten setzte Feuerbach die Vormachtstellung der externen Welt voraus: "Natur und Materie können nicht als das Ergebnis von Intelligenz erklärt werden. Im Gegenteil: Sie sind die Basis von Intelligenz, die Grundlage für Persönlichkeit, ohne selbst eine Basis zu haben. Geist ohne Natur ist eine irreale Abstraktion; Bewusstsein entwickelt sich nur aus der Natur" (L. Feuerbach Das Wesen des Christentums).

Bewusstein kann außerhalb der Natur nicht existieren. In seinem Essay über Feuerbach fasste Engels so zusammen: "Nichts exisitiert ausserhalb der Natur und des Menschen". Er beschrieb, dass dieser naturalistische Materialismus, den er auch als Marxs "neuen Materialismus" bezeichnete, auf der Überzeugung beruht, dass "die materielle, sinnlich erfassbare Welt, wie wir sie täglich erfahren, die einzige Realität darstellt ... unser Bewusstein und unsere Gedanken, so übersinnlich sie uns auch erscheinen mögen, sind das Produkt eines materiellen, körperlichen Organs, dem Gehirn. Materie ist nicht das Produkt des Geistes, sondern der Geist ist im Gegenteil das höchste Produkt von Materie" (MEÜR).

Feuerbachs Naturalismus und Anthropozentrismus fanden in seiner Überzeugung Ausdruck, dass "die neue Philosophie den Menschen zum einzigen, universellen und höchsten Objekt der Philosophie macht. Auf diese Weise wird Anthropologie, einschließlich der Physiologie, zur univerellen Wissenschaft" (Grundsätze). Obwohl er seine Ideen "die neue Philosophie" nennt, lag ihm jedoch nicht daran, der Philosphie im Hegelianischen Sinne eine Vormachtstellung zuzuweisen. Philosophie, wie jede Wissenschaft, muss auf der Natur basieren:

"Philosphie muss sich wieder mit der Naturwissenschaft vereinigen und die Naturwissenschaft mit der Philosophie. Diese Einheit, die auf gegenseitigem Bedürfnis und einer inneren Notwendigkeit beruht, wird mehr Sinn machen als die mésalliance, die bisher zwischen Philosophie und Theologie bestand" (,Preliminary theses', zitiert in Z Jardan The evolution of dialectal materialism).

Marx lobte Feuerbach dafür, "die nüchterne Philosophie der betrunkenen Philosophie" gegenübergestellt zu haben (KMAW). Doch was er hier als "nüchterne Philosophie" bezeichnete, hatte mit Philosophie im herkömmlichen Sinn fast gar nichts zu tun, sondern beschrieb den naturalistischen Materialismus im Entstehen. Dieser neue Ansatz, der darauf bestand, die menschliche Existenz organisch und naturalistisch zu betrachten, sollte die Basis für Marx' Materialismus bilden.